„CPX“ – eine Mütze zeigt den Sieg der Favelas über Bolsonaro (nd)

erschienen bei: ND-Aktuell (Dezember 2022) (Link)

»Ich lag schon im Bett. Da kamen die ersten Nachrichten an.« Alle paar Sekunden vibrierte sein Smartphone. Rene Silva ist bekannter Favela-Aktivist. Den ganzen Tag lang hatte er neben Ex-Präsident Lula da Silva auf der Bühne gestanden, bei dessen Wahlkampfauftritt in einer der größten Favelas von Rio, dem Complexo do Alemão. Nun stand er mitten in einem Shitstorm.

Das Netz quoll über von Lügen über Lula, seinen Stadtteil und ihn, gestreut von Bolsonaros Anhänger:innen. Die ganze Gegend sei in der Hand von Drogenkartellen und er selbst ein bekannter Drogendealer. Seine Mütze sei ein Erkennungszeichen. Aber da hatten sie sich mit dem Falschen angelegt.

Der „Complexo“ ist ein wuseliger, lauter Stadtteil mit rund 70.000 Einwohner*innen. Es gibt kaum Bäume, es ist heiß, die Mittagssonne brennt. Kinder in Schuluniformen sind auf dem Weg nach Hause. An der Ecke stehen schwer bewaffnete Polizisten und essen ein Eis. So war es vermutlich auch an jenem Tag im Oktober als Lula hier war.

Er besuchte den Complexo Alemão im Wahlkampf. Tausende Menschen umringten seinen Lautsprecherwagen. Transparente und ein Meer aus roten Fahnen. Aus den Fenstern hielten junge Frauen stolz ihre Universitäts-T-Shirts – als Zeichen dafür, wie dankbar sie dem ehemaligen Präsidenten für seine Bildungspolitik sind. Da war er wieder. Der »Vater der Armen«, wie Lula lange genannt wurde. In einer emotionalen Rede sagte er den Favela-Bewohner*innen seine Unterstützung zu.

Bolsonaros Unterstützer*innen erkannten, wie gefährlich diese Bilder für den amtierenden Präsidenten werden konnten. Und sie machten, was sie immer machten: Sie begannen, Fake News zu streuen. Sie twitterten, Lula besuche seine »Drogendealer-Freunde«, »seine CPX«. Die Abkürzung stehe gar nicht für »Complexo«, sondern für das brasilianische Wort für »Komplize«. Lula habe keinen Polizeischutz gehabt, weil er unter dem Schutz von mächtigen Drogendealern gestanden habe. Ein Schwarzer Schauspieler auf dem Selfie mit Lula sei auch ein Drogendealer.

Vier Jahre lang hatte Noch-Präsident Bolsonaro nur Verachtung übrig für die ärmsten Stadtteil von Rio. Vor seiner Wahl verlangte er, die Polizei solle mit Maschinengewehren in die Favelas schießen. Außerdem schlug er vor, arme Frauen zu sterilisieren, damit sie weniger Kinder bekommen. Nachdem er gewählt wurde, kündigte er an, dass Kriminelle in Favelas »wie Kakerlaken« sterben würden.

Und den Worten des Präsidenten folgten Taten der Polizei: Bei einem Massaker in der Favela Jacarezinho im Mai 2021 starben 29 Menschen – der tödlichste Einsatz in der Geschichte der Polizei von Rio. 23 Menschen starben im Mai 2022 in der Favela Vila Cruzeiro. 17 Menschen im Juli 2022 im Complexo Alemão. Unter den Toten waren teils bewaffnete Drogendealer, aber auch viele Nachbarn, Kinder und Passanten. Und es gab noch viele weitere tödliche Polizei-Aktionen. Meist beglückwünschte Präsident Bolsonaro die Polizei – und verweigerte unbeteiligten Opfern die Anteilnahme.

Bei einer TV-Debatte kurze Zeit später wiederholte Bolsonaro die Fake News, die seine Leute selbst gestreut hatten. Zu seinem Herausforderer Lula sagte er: »Da waren keine Polizisten in deiner Nähe. Nur Drogendealer.« Damit stellte er die Bewohner*innen des Complexo unter Generalverdacht. Und besonders Rene Silva – er hatte schließlich während des Besuchs direkt neben Lula gestanden.

»Wir entschieden uns zurückzuschlagen«, erzählt Silva. Den ganzen nächsten Tag nach Lulas Besuch verbrachten er und seine Kolleg*innen damit, klarzustellen, dass Favela nicht gleich für Drogenhandel stehen. Sie baten Unterstützer*innen um Hilfe. Sie sprachen mit Journalist*innen, die Faktenchecks machten. Immer mehr Politiker*innen, Promis und Rapstars zeigten sich im Netz mit der CPX-Mütze. Darunter die TV-Moderatorin Xuxa und später Formel-1-Star Lewis Hamilton. Das war der Beginn des Aufstiegs der »CPX«-Mützen.

Der Präsident brachte den Tod in die Favelas

Nie zuvor gab es in Rio pro Jahr so viele Tote durch Polizeieinsätze wie in der Regierungszeit Bolsonaros. Ein Grund: Er zog die Bundespolizei für »militärische Operationen« in den Favelas hinzu. Bei vielen Einsätzen veröffentlichten die Behörden nur noch die Zahlen der Toten, nicht mehr die zu Festgenommenen. 2019 starben mehr als 1600 Menschen durch Polizeieinsätze in Rio – etwa fünf pro Tag, laut Forschungen des GENI-Projekts der Universität UFF. Auch unter Lula hatte es viele Tote geben, aber das war ein trauriger Höchststand. Sogar die UN verurteilte die Polizeigewalt besonders gegen Schwarze und drängte auf Ermittlungen.

Das Gegenteil passierte: Seit einem Gesetz Bolsonaros von 2019 wurden Militär-Polizist*innen nicht mehr inhaftiert für Verbrechen, die sie während ihrer Einsätze begingen. Die Folgen waren verheerend. Gegen Polizist*innen gab es faktisch keine Ermittlungen oder Strafen mehr. »Es war das Gesetz, dass sie machen konnten, was sie wollten«, sagt Aktivist Silva. »Von da an schikanierten sie uns noch mehr. Wir hatten zwar nicht mehr jeden Tag Schießereien«, erzählt er, “aber dafür war die Polizei viel brutaler. « Zum Vergleich: Rio de Janeiro hatte 2021 mehr als 1200 Tote durch Polizeigewalt – mehr als die gesamten Vereinigten Staaten. Dort waren es etwa 1000. In Deutschland 15.

Bolsonaro verlor die Stichwahl Ende Oktober gegen seinen Herausforderer Lula, knapp mit 49 Prozent. In den meisten Favelas von Rio verlor er deutlich. In der Favela Rocinha bekam er nur halb so viele Stimmen wie sein Herausforderer Lula (64 zu 36 Prozent). Zwar wählten ärmere Menschen überall häufiger Lula. Doch ein Grund für dieses Ergebnis war sicher auch die Verachtung des Präsidenten für die Favelas.

Bolsonaros Fake News zum Thema »CPX« wurden später auch gerichtlich verboten. Ein Bewohner des Complexo do Alemão hatte Bolsonaro beim Obersten Wahlgericht angezeigt. Fünf Tage später veranlassten die obersten Richter*innen die Löschung sämtlicher Fake News zum Thema in den sozialen Netzwerken. Ein Riesenerfolg im Kampf der Bewohner gegen die verächtlichen Sprüche des Präsidenten. Die Mütze wurde endgültig zum Symbol des Stolzes, der zurück ist in den Favelas, nach Jahren der Diskriminierung durch den eigenen Präsidenten.

So sieht das auch die Anwohnerin Isabell Pereira. Sie betreibt einen Kiosk und wohnt schon seit 60 Jahren im Complexo. Sie kennt viele Drogendealer hier schon seit sie Kinder waren. »Am Tag als Lula hier war, war keiner von ihnen dabei.« Mit den Fake News wollte Bolsonaro nur Lula schaden, sagt sie. Isabell hofft jetzt, dass es unter Lula besser wird. »Die letzten vier Jahre waren eine Katastrophe für mich. Es hat kaum noch jemand etwas gekauft«. In manchen Monaten reichte ihr Verdienst nicht, um sich genug Essen zu kaufen. Die Corona-Wirtschaftskrise hat Brasilien hart getroffen. Präsident Bolsonaro rühmte sich zwar, Lockdown-Maßnahmen verhindert zu haben. Aber der Preis war hoch: Etwa 700.000 Menschen sind in Brasilien an Covid-19 gestorben. Mehr waren es nur in den USA.

Bolsonaros Gewaltfantasien und -gesetze waren der schrillste Ausdruck einer gescheiterten Favela-Politik in Brasilien. Jahrzehntelange wurden Favelas entweder ignoriert oder abgerissen. Es gab keine Schulen, Krankenhäuser oder Polizeistationen für die Favelas. Dafür blühte der Drogenhandel. Erst in den Nullerjahren gab es ein Umdenken. Ab 2008 wurden mit der »UPP-Kampagne« die ersten Polizeistationen in vielen Favelas eingerichtet. Auch der Complexo do Alemão wurde damals mit Hubschraubern und Panzern »zurückerobert«. Die Bilder gingen um die Welt.

Über das, was danach kam, wurde wenig berichtet. Die Gewalt ging zurück. Der sichtbare Drogenhandel auch. Aber statt großflächig in Favelas zu investieren, kürzte die Stadtverwaltung die Mittel für die UPP-Polizeistationen. »Der Staat hat die UPP-Polizist*innen hier im Stich gelassen«, sagt Aktivist Silva.

»CPX« war Top-Thema im Wahlkampf

»CPX« und Lulas Besuch in der Favela gehörten zu den Top-3-Themen im gesamten Wahlkampf. Dass Lula am Ende gewann, lag auch an seinem Auftritt im Complexo do Alemão. Und dem Kampf der Favela-Aktivist*innen und -Bewohner*innen an den Tagen bdanach. Sie organisierten auch eine Hilfsaktion. Wer eine Mütze wollte, sollte einer Favela-Familie einen »cesta básica« spenden – einen Korb mit Grundnahrungsmitteln für einen Monat. »Wir haben 2.500 Mützen verschickt«, sagt Silva stolz. Ein Riesenerfolg. Es reichte, um 200 Familien ein Jahr lang satt zu machen.

»Was ich das Beste an den Mützen finde«, sagt Anwohnerin Isabell, »ist, dass sie hier bei uns hergestellt werden. Und Arbeit bringen.« Über die Spendenaktion hinaus profitierte auch die Textil-Werkstatt, aus der die Mützen kommen.

Bestellungen aus der ganzen Welt

Drei Stickmaschinen, ein Plastikstuhl, ein Ventilator. Das ist der Arbeitsplatz von Marcelo Junior. In der Favela-Werkstatt sind die Wände unverputzt. Vor dem Fenster kräht ein Hahn. An einem klapprigen Rechner gibt Marcelo gerade die Muster ein. Mit einem USB-Stick bringt er sie zur Maschine. Und die stickt los. Zwei Minuten für eine Mütze. Zehn Stunden, ohne Pausen. Denn es geht hier nicht nur um Mützen. Es geht auch um den Stolz der Favela.

»Wir kommen kaum noch hinterher mit der Produktion«, erzählt Marcelo, der Chef der Textilfirma JR Bordados. »In den letzten Wochen hatten wir Bestellungen aus Deutschland, England, Italien – und natürlich aus ganz Brasilien.« Auch für Marcelo stehen die Mützen für den Kampf gegen alle Vorurteile die Menschen aus Favelas jeden Tag erleben.

Außerdem konnte er sein Geschäft ausbauen: Früher hatte seine Firma zwei Angestellte. Inzwischen sind es acht. 500 Mützen schaffen sie inzwischen am Tag. Durch den Erfolg der »CPX«-Mützen konnte seine Firma nun auch größere Aufträge von anderen Kunden annehmen. Gerade besticken die Maschinen Kostüme zum Karneval kommendes Jahr. Eine Erfolgsstory made in Rio. »Sie steht dafür, dass wir Favela-Bewohner keine Gangster sind«, sagt Marcelo, »sondern dass wir hart arbeiten, um etwas zu erreichen.«

Von Carsten Wolf

Update: Im März 2023 gewann die Sambaschule „Imperatriz Leopoldinense“ den Titel als beste Sambaschule von Rio beim Karneval 2023. Zu ihren Unterstützer:innen gehören auch die meisten Bewohner:innen des Complexo Alemao. Rene Silva twitterte: „Zuerst Bolsonaro besiegt, jetzt noch den Carnaval gewonnen.“

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